An das Leben – für all die Lektionen, die ich nicht bestellt habe
Ich habe dich oft verflucht, dich nicht verstanden, dir die Schuld gegeben – und trotzdem bin ich geblieben. Irgendwie hast du es immer geschafft, mich wieder zu überraschen, selbst dann, wenn ich dachte, du hättest mir nichts Gutes mehr zu bieten.
Ich schreibe dir, weil ich endlich das sagen will, was ich so lange verdrängt habe:
Du warst nicht immer fair. Und trotzdem hast du mich stärker gemacht, als ich je sein wollte.
Es gab Zeiten, da war ich wütend auf dich. Ich fragte mich, warum du mir Menschen schenkst, nur um sie mir wieder zu nehmen.
Warum du Träume in mir pflanzst, die du dann mit einem Sturm zerstörst. Warum du mir Lektionen gibst, die ich nie bestellt habe.
Ich wollte Leichtigkeit, du hast mir Prüfungen gegeben.
Ich wollte Sicherheit, du hast mir Veränderung gebracht.
Ich wollte Liebe, du hast mir Verlust gezeigt.
Und doch – rückblickend – war jede einzelne deiner unbequemen Lektionen ein Wendepunkt.
Ich hätte sie nicht gewählt, aber sie haben mich geformt.

Ich erinnere mich an die Tage, an denen ich dachte, ich schaffe das alles nicht mehr. An die Nächte, in denen ich geweint habe, bis meine Tränen trocken waren.
An die Momente, in denen ich einfach nur gefragt habe: warum ich?
Und du hast nie geantwortet.
Nicht mit Worten. Aber mit Wegen.
Du hast mir gezeigt, dass man Stärke nicht lernt, wenn alles gut läuft – sondern wenn man keine andere Wahl hat.
Du hast mir gezeigt, dass man aufstehen kann, selbst wenn man denkt, man hätte keine Kraft mehr.
Und dass das Herz weiter schlägt, auch wenn es in tausend Stücke zerbrochen ist.
Ich erinnere mich an all die Male, in denen ich versucht habe, dich zu kontrollieren – Pläne, Listen, Sicherheiten.
Ich wollte dich festhalten, als wärst du ein Puzzle, das ich nur richtig zusammensetzen müsste, um endlich „fertig“ zu sein.
Aber du hast mir beigebracht, dass Kontrolle eine Illusion ist. Dass man nicht alles verstehen muss, um trotzdem weiterzugehen. Dass manche Dinge zerbrechen, damit man sieht, was wirklich trägt.
Ich habe so oft gedacht, du wärst gegen mich – dabei hast du mich nur zu mir selbst zurückgeführt.

Liebes Leben, du warst nicht immer sanft.
Du hast mir Menschen gezeigt, die mich verletzt haben, damit ich lerne, Grenzen zu setzen. Du hast mir Verluste geschickt, damit ich erkenne, dass nichts – und niemand – mir gehört.
Du hast mir Fehler erlaubt, damit ich verstehe, dass Perfektion mich nur gefangen hält.
Und du hast mich enttäuscht – nur um mir beizubringen, dass Erwartungen keine Garantien sind.
Heute weiß ich:
Nichts war umsonst.
Nicht der Schmerz.
Nicht die Stille.
Nicht einmal die Zeiten, in denen ich dachte, du hättest mich vergessen.
Ich habe gelernt, dass Heilung kein Ziel ist, sondern eine Reise.
Eine Reise, bei der man lernt, sich selbst zu halten, wenn niemand anderes es kann.
Eine Reise, bei der man erkennt, dass man selbst der Ort ist, an dem man immer wieder ankommen darf.

Und weißt du was, Leben? Ich bin dankbar.
Nicht, weil alles schön war – sondern weil ich gelernt habe, Schönheit selbst in den Bruchstellen zu finden.
Du hast mich gelehrt, loszulassen.
Menschen, die nicht bleiben wollten.
Träume, die mich klein hielten.
Versionen von mir, die ich längst hinter mir gelassen habe.
Du hast mich gezwungen, loszulassen – bis ich endlich verstand, dass Loslassen kein Verlust ist, sondern Befreiung.
Ich war oft wütend, wenn du mir das genommen hast, was ich liebte. Aber heute verstehe ich, dass du damit Platz gemacht hast – für Dinge, die wirklich zu mir gehören.
Ich habe gelernt, dass Abschiede nicht immer das Ende sind.
Manchmal sind sie der Anfang eines neuen Kapitels, das man nie geschrieben hätte, wenn alles geblieben wäre, wie es war.
Ich erinnere mich an die Tage, an denen ich mich klein gefühlt habe – unsicher, ängstlich, zerrissen.
Und an die Nächte, in denen ich gespürt habe, dass irgendwo tief in mir etwas noch leuchtet.
Etwas, das du nie auslöschen konntest, egal, was du mir genommen hast: meine Hoffnung.

Diese Hoffnung, die leise flüstert:
Egal, was passiert – du wirst dich immer wieder finden.
Ich bin nicht mehr dieselbe, die ich einmal war. Ich bin nicht mehr die Frau, die dachte, sie müsse alles aushalten, um stark zu sein.
Ich bin nicht mehr die, die sich beweisen muss.
Ich bin heute jemand, der weiß, dass Stärke auch bedeutet, weich zu bleiben. Dass Mut nicht heißt, keine Angst zu haben, sondern trotzdem zu gehen. Und dass Liebe zu mir selbst der Anfang von allem ist.
Also danke, Leben.
Danke für all die Lektionen, die ich nie bestellt habe.
Danke für den Schmerz, der mich gelehrt hat, was Heilung bedeutet.
Danke für die Stürme, die mich dazu gezwungen haben, meine eigenen Wurzeln zu finden.
Danke für das Chaos, aus dem ich gelernt habe, Frieden zu schaffen.
Ich hätte vieles anders gewollt.
Aber heute sehe ich: Ich brauchte genau das, um hier zu stehen.
Ich habe gelernt, dir zu vertrauen – auch wenn du mir wehgetan hast. Ich habe gelernt, dass du mich nie bestrafen, sondern immer formen wolltest. Und dass ich nicht Opfer deiner Wege bin, sondern Mitschöpferin meines Lebens.
Ich gestalte dich jetzt mit.
Mit Entscheidungen, die sich nach mir anfühlen.
Mit Grenzen, die mich schützen.
Mit Liebe, die nicht mehr bettelt, sondern wählt.
Ich lebe bewusster, klarer, tiefer – und dafür danke ich dir.

Ich weiß, du wirst mich weiter prüfen. Du wirst mir neue Lektionen schicken, neue Menschen, neue Umwege.
Aber diesmal trete ich ihnen anders entgegen.
Nicht mehr mit Angst, sondern mit Vertrauen. Nicht mehr mit Wut, sondern mit Akzeptanz.
Nicht mehr mit der Frage „Warum ich?“, sondern mit dem Gedanken: „Was darf ich daraus lernen?“
Ich bin nicht mehr die Frau, die auf ein leichteres Leben hofft.
Ich bin die Frau, die gelernt hat, sich selbst leicht zu machen – egal, wie schwer es gerade ist. Ich bin die Frau, die aufgehört hat, dich zu bekämpfen, und angefangen hat, mit dir zu tanzen.
Und wenn ich heute zurückblicke, dann nicht mit Bitterkeit, sondern mit einem stillen Lächeln.
Denn du warst nie gegen mich, Leben – du warst immer für mich.
Ein Brief, den ich nie verschickt habe – und der mich gelehrt hat, dem Leben zu vertrauen.