brief an meine eltern

An meine Eltern: Dinge, die ich nie laut gesagt habe

Mama, Papa,

es fühlt sich seltsam an, euch diesen Brief zu schreiben. Nicht, weil ich euch etwas vorwerfen will, sondern weil ich nie wirklich gelernt habe, ehrlich zu euch zu sein.

Ich war immer das Kind, das funktioniert hat. Das brave Mädchen, das lächelt, wenn es weh tut, das nickt, wenn es lieber schreien würde.

Ich habe gelernt, leise zu sein, um keinen Streit auszulösen, stark zu sein, um niemanden zu belasten, und dankbar zu wirken, selbst wenn ich mich leer gefühlt habe.

Ich habe euch geliebt – und gleichzeitig oft nicht gewusst, wie ich mich in eurer Welt einfügen soll.

Es gab Momente, in denen ich so sehr nach eurer Anerkennung gesucht habe, dass ich mich selbst darin verloren habe.

Ich habe gute Noten geschrieben, damit ihr stolz seid. Ich habe mich entschuldigt, auch wenn ich im Recht war. Ich habe mich angepasst, geschwiegen, durchgehalten.

Ich wollte einfach nur, dass ihr sagt: „Wir sehen dich. Du machst das gut. Du bist genug.“

Aber stattdessen kamen oft Sätze, die ich nie vergessen konnte:

„Reiß dich zusammen.“

„So schlimm ist das doch gar nicht.“

„Andere haben es viel schwerer.“

Und so habe ich gelernt, meine Gefühle zu verstecken – weil sie nie so wichtig schienen wie das, was ihr von mir erwartet habt.

Ich weiß, ihr habt es nicht böse gemeint. Ihr habt selbst nie gelernt, über Gefühle zu sprechen. Ihr habt funktioniert, weil ihr musstet. Ihr habt gehungert, gearbeitet, euch durchgekämpft.

Ich verstehe das heute besser.

Aber damals – als Kind – konnte ich das nicht. Ich habe nicht gesehen, dass ihr müde wart oder Angst hattet. Ich habe nur gespürt, dass meine Tränen euch ungeduldig machten, dass meine Unsicherheit euch störte.

Und so habe ich mich in mich selbst eingesperrt.

Ich erinnere mich an Abende, an denen ich mir gewünscht hätte, ihr würdet einfach mal fragen: „Wie geht’s dir wirklich?“

Nicht, um eine höfliche Antwort zu hören – sondern um zuzuhören.

Ich erinnere mich an Geburtstage, an denen ich mir keine Geschenke, sondern einfach Zeit gewünscht habe.

Und an all die Male, in denen ich dachte: Wenn ich nur noch ein bisschen besser bin, wenn ich noch ein bisschen mehr gebe – dann werdet ihr stolz auf mich sein.

Aber das Lob blieb aus.

Und irgendwann habe ich aufgehört, es zu erwarten.

Ich habe mir später Menschen gesucht, die euch ähneln – Menschen, die mich nur dann mochten, wenn ich stark, ruhig und hilfsbereit war.

Ich habe Männer geliebt, die emotional unerreichbar waren.

Ich habe Freundschaften gepflegt, in denen ich immer diejenige war, die zuhört, aber nie wirklich erzählt.

Ich dachte, das sei normal.

Ich wusste nicht, dass ich versuchte, von anderen die Liebe zu bekommen, die ich als Kind gebraucht hätte.

Heute, viele Jahre später, weiß ich:

Ich war nicht schwierig. Ich war nur traurig.

Ich war nicht zu sensibel. Ich war einfach jemand, der gesehen werden wollte.

Ich war nicht zu emotional. Ich war ein Kind, das nie gelernt hat, dass Gefühle erlaubt sind.

Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen.

Und noch länger, um zu heilen.

Mama, Papa, ich weiß, ihr habt euer Bestes gegeben.

Ihr hattet eure eigenen Wunden, eure eigenen unerfüllten Träume. Ihr wolltet mich beschützen, formen, vorbereiten auf das Leben.

Ihr habt geglaubt, Stärke käme durch Härte – aber sie hat mich zuerst gebrochen, bevor sie mich irgendwann wirklich stark gemacht hat.

Ich habe euch lange Vorwürfe gemacht. Heimlich, leise, in meinen Gedanken. Ich habe euch die Schuld gegeben, wenn ich in Beziehungen zu viel gab und zu wenig bekam.

Ich habe euch die Schuld gegeben, wenn ich Angst hatte, zu laut, zu ehrlich oder zu ich selbst zu sein.

Und vielleicht, ja, war ein Teil davon gerechtfertigt. Aber irgendwann habe ich verstanden: Ihr konntet mir nicht geben, was ihr selbst nie bekommen habt.

Ich schreibe euch diesen Brief nicht aus Wut, sondern aus Freiheit. Weil ich heute nicht mehr will, dass die Vergangenheit bestimmt, wie ich liebe, wie ich vertraue, wie ich lebe.

Ich will euch sehen – als Menschen, nicht nur als Eltern.

Menschen, die Fehler gemacht haben. Menschen, die selbst Kinder ihrer eigenen Geschichten sind.

Ich kann nicht mehr erwarten, dass ihr euch ändert. Aber ich kann entscheiden, dass ich heile.

Heute habe ich begonnen, mich selbst liebevoll in den Arm zu nehmen – innerlich. Ich umarme mein inneres Kind, das so lange um Zuwendung gebettelt hat.

Ich sage ihm: „Du bist genug. Du bist nicht zu viel. Du bist nicht schwer zu lieben.“

Ich habe aufgehört, mich zu entschuldigen, wenn ich weine.

Ich habe aufgehört, mich kleinzumachen, wenn ich stark bin.

Und ich habe aufgehört, Liebe mit Angst zu verwechseln.

Ich habe gelernt, Grenzen zu setzen – auch euch gegenüber. Das war der schwerste Teil.

Denn jedes Mal, wenn ich „Nein“ sagte, fühlte es sich an wie Verrat. Aber heute weiß ich: Grenzen sind kein Angriff. Sie sind Selbstschutz.

Ich darf euer Kind sein, ohne mich für euer Glück verantwortlich zu fühlen.

Ich darf euch lieben, ohne alles zu akzeptieren.

Ich darf Nähe wollen, ohne mich selbst dabei zu verlieren.

Manchmal sehe ich euch an – älter, stiller, weicher – und ich spüre, dass in euch auch Reue wohnt. Vielleicht fragt ihr euch, ob ihr etwas hättet anders machen sollen.

Die Antwort ist: Ja, vielleicht.

Aber das Leben ist keine Korrekturaufgabe. Und ich habe aufgehört, auf eine Entschuldigung zu warten.

Denn das, was ich am meisten gebraucht habe, kann ich mir heute selbst geben: Verständnis, Wärme, Anerkennung.

Ich habe gelernt, mich selbst zu halten, wenn niemand da ist.

Ich habe gelernt, meinen eigenen Wert nicht von eurer Meinung abhängig zu machen.

Ich habe gelernt, dass Liebe nicht immer perfekt ist – aber sie kann heilen, wenn man bereit ist, ehrlich hinzusehen.

Ich schreibe diesen Brief, weil ich heute Frieden will – mit euch, mit mir, mit der Vergangenheit. Weil ich erkannt habe: Ich kann euch lieben und trotzdem Abstand brauchen.

Ich kann dankbar sein für das, was ihr mir gegeben habt – und gleichzeitig traurig über das, was gefehlt hat. Beides darf existieren.

Ich danke euch für das, was ihr mir still beigebracht habt:

dass meine Stimme zählt,

dass Stärke Raum für Tränen lässt,

und dass Rettung manchmal in den eigenen Händen liegt.

Vielleicht werdet ihr diesen Brief nie lesen. Aber er wird trotzdem seinen Zweck erfüllen.

Weil ich mit jedem Wort ein Stück mehr loslasse – die Erwartungen, die Enttäuschungen, die Sehnsucht nach dem, was nie war.

Und während ich das tue, merke ich: Ich werde freier.

Nicht, weil ihr euch verändert habt. Sondern weil ich aufgehört habe, auf euch zu warten.

Ich liebe euch.

Auf meine Weise.

Mit Grenzen, mit Verständnis, mit der Klarheit, dass Liebe auch Schmerz überlebt.

Ich bin euer Kind – aber ich bin auch mein eigener Mensch.

Und heute, endlich, bin ich frei.

Ein Brief, den ich nie verschickt habe – aber der mich endlich geheilt hat.

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