An meine Geschwister – was ich nie sagen konnte
An euch,
es fühlt sich seltsam an, diesen Brief zu schreiben. Vielleicht, weil ich so vieles nie in Worte fassen konnte. Vielleicht, weil wir nie die waren, die über Gefühle sprechen.
Wir haben gestritten, gelacht, uns angeschwiegen – und zwischen all dem blieb so vieles ungesagt.
Aber heute möchte ich euch sagen, was ich nie geschafft habe, laut zu sagen.
Weil ich glaube, dass manche Dinge erst auf Papier ihren Frieden finden.
Ich weiß, wir sind zusammen aufgewachsen – aber manchmal fühlte es sich an, als wären wir in ganz verschiedenen Welten groß geworden. Jeder von uns hatte seine eigene Rolle: die Starke, der Vernünftige, die Rebellin, der Ruhige, das Sorgenkind.
Und irgendwie sind wir in diesen Rollen stecken geblieben, als wären sie Teil unserer DNA geworden.

Ich weiß nicht, ob ihr das auch so empfunden habt, aber manchmal habe ich mich in dieser Aufteilung verloren. Ich habe Dinge geschluckt, die ich hätte sagen sollen, und Erwartungen erfüllt, die ich nie gestellt bekommen wollte.
Es gab Momente, in denen ich auf euch wütend war.
Nicht, weil ihr etwas Schlimmes getan habt, sondern weil ich mir gewünscht hätte, dass ihr mich seht. So, wie ich wirklich bin.
Ich wollte manchmal, dass ihr merkt, dass ich nicht so stark bin, wie ich tue. Dass ich müde bin vom Durchhalten, vom Kümmern, vom Funktionieren.
Aber stattdessen habe ich weitergemacht, weil ich dachte, das wird von mir erwartet.
Vielleicht hättet ihr mir geholfen, wenn ich euch gelassen hätte. Vielleicht war es mein Fehler, immer die zu sein, die alles im Griff hat.
Ich erinnere mich an unsere Kindheit – an das Chaos, das Lachen, die Geheimnisse, die wir geteilt haben.
An Nächte, in denen wir uns Geschichten ausgedacht haben, nur um länger wach zu bleiben. An gemeinsame Blicke am Esstisch, wenn wir wussten, dass gleich wieder ein Streit losgeht.
An Momente, in denen wir einander beschützt haben, ohne ein Wort zu sagen.
Damals wussten wir es nicht, aber wir waren ein kleines Team. Vielleicht nicht perfekt, aber echt.

Und irgendwie, auch wenn das Leben uns in verschiedene Richtungen getragen hat, bleibt dieses unsichtbare Band.
Ich wollte euch oft sagen, wie sehr ich euch bewundere. Wie unterschiedlich wir sind – und wie stark jeder von euch auf seine eigene Art.
Wie viel ich von euch gelernt habe, auch wenn ich es nie zugegeben habe.
Von dir habe ich gelernt, wie man kämpft, auch wenn man Angst hat.
Von dir, wie man liebt, ohne viele Worte.
Von dir, dass man manchmal schweigen darf, um Frieden zu wahren.
Und von dir, dass man lachen kann, selbst wenn das Herz schwer ist.
Ihr wart meine ersten Lehrer*innen, auch wenn ihr es nie wusstet. Ihr habt mir beigebracht, was Nähe bedeutet – und auch, wie schmerzhaft Distanz sein kann.
Es gibt Dinge, die zwischen uns passiert sind, die ich nie ganz verstanden habe.
Worte, die wehgetan haben. Schweigen, das lauter war als jeder Streit. Blicke, in denen mehr lag, als wir sagen wollten.
Ich habe lange gedacht, wir müssten alles klären, um Frieden zu finden.
Aber vielleicht ist Frieden manchmal einfach: verstehen, dass wir alle unser Bestes gegeben haben – mit dem, was wir damals wussten.
Wir waren Kinder, die versuchten, in einer Welt klarzukommen, die nicht immer sanft zu uns war. Und wir haben überlebt. Gemeinsam, auf unsere Art.

Ich weiß, wir sind nicht die, die sich ständig schreiben oder stundenlang telefonieren. Manchmal vergehen Wochen, Monate – und trotzdem weiß ich: Wenn ich euch brauche, seid ihr da.
Manchmal reicht eine kurze Nachricht, ein Foto, ein altes Lied, um zu fühlen: Wir gehören zusammen.
Diese Art von Verbindung ist still, aber echt. Und vielleicht ist das genau das, was zählt.
Ich wollte euch sagen, dass ich stolz auf euch bin.
Auch wenn ich es nicht oft sage. Ich sehe, was ihr geschafft habt. Ich sehe, wie ihr kämpft, wie ihr liebt, wie ihr weitermacht, auch wenn es schwer ist.
Ich sehe die Menschen, die ihr geworden seid – und ich bin dankbar, euch meine Geschwister nennen zu dürfen.
Es gab Zeiten, da habe ich euch vermisst, obwohl ihr da wart. Weil das Leben uns beschäftigt hat. Weil wir in unseren eigenen Sorgen steckten. Weil die Nähe manchmal Arbeit ist, und wir alle müde waren.
Aber jetzt, wo ich älter bin, merke ich, wie wertvoll es ist, euch zu haben. Niemand sonst kennt meine Anfänge so wie ihr.
Niemand sonst weiß, woher meine Eigenheiten kommen, meine Wunden, mein Humor.
Ihr seid Teil meiner Geschichte – egal, wie weit wir voneinander entfernt sind.

Ich wollte euch auch sagen, dass ich euch verzeihe.
Für das, was unausgesprochen blieb.
Für das, was wehgetan hat.
Für das, was wir nicht besser wussten.
Und ich hoffe, ihr verzeiht mir auch – für die Momente, in denen ich zu stolz war, um zu sagen: „Ich brauche euch.“
Für die Male, in denen ich mich zurückgezogen habe, statt ehrlich zu sein. Für das, was zwischen uns lag und nie benannt wurde.
Wir alle tragen unsere Narben – aber ich glaube, sie verbinden uns mehr, als sie uns trennen.
Ich weiß, dass das Leben weitergeht. Dass wir vielleicht nie die Familie sein werden, die ständig zusammenhängt oder alles ausspricht.
Aber vielleicht müssen wir das auch gar nicht. Vielleicht reicht es, zu wissen: da ist Liebe, auch wenn sie still ist.
Ich trage euch in mir – in kleinen Erinnerungen, in alten Liedern, in Gerüchen, die mich an Zuhause erinnern. Und jedes Mal, wenn ich an euch denke, spüre ich ein leises Lächeln in mir.

Ich glaube, wir alle sind heute ein bisschen weicher geworden. Weniger laut, weniger trotzig, weniger stolz.
Vielleicht, weil das Leben uns Demut beigebracht hat. Vielleicht, weil wir verstanden haben, dass Liebe oft in Gesten steckt, nicht in großen Worten.
Und ich will euch sagen: Ich bin dankbar für uns. Für all das Unvollkommene, das uns trotzdem hält. Für die Geschichte, die wir teilen – mit allen Ecken, Kanten und Narben.
Wenn ich an uns denke, sehe ich kein perfektes Bild. Ich sehe Menschen, die gewachsen sind. Die Fehler gemacht und verziehen haben. Die sich gesucht und manchmal verloren haben.
Aber ich sehe Liebe. Aufrichtig. Still. Beständig.
Und ich sehe Hoffnung – dass wir einander vielleicht eines Tages wieder so nah sind wie früher, nur ehrlicher, reifer, freier.
Ein Brief, den ich nie verschickt habe – aber der endlich sagt, was ich immer gefühlt habe.